Wurzelreisenzs
Leben mit einem Trauma
Auf einer seiner "Wurzelreisen" zeigt Rolf Shimon Mayer 1998 dem Enkelsohn Uri den jüdischen Friedhof in Laufersweiler.

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ So beschreibt die deutsche Schriftstellerin Christa Wolf 1976 in „Kindheitsmuster“ Versuche einer Annäherung an ihre eigene Vergangenheit. Auf unterschiedlichen Ebenen setzten nach 1945 allmählich Prozesse der „Vergangenheitsbewältigung“ ein - individuell und kollektiv, privat und öffentlich. Doch die Zeit des Nationalsozialismus kann nicht einfach „erledigt“ werden. Heute dominieren daher Begriffe wie „Aufarbeitung“ und „Erinnerungskultur“ und verweisen auf den unabschließbaren Charakter der Erlebnisse und Geschehnisse.

Sprachlosigkeit

Der Nationalsozialismus zerstörte jüdisches Leben auf dem Lande unwiederbringlich. Seit den 1940er Jahren gibt es im Rhein-Hunsrück-Kreis keine lebendige Gemeinde mehr. Ihre Mitglieder begaben sich auf die Flucht, blieben verschollen, wurden deportiert, in den Konzentrationslagern ermordet. Zur alten Heimat gingen die Überlebenden auf Distanz, ihr Blick wendete sich nach vorne. Doch die Erlebnisse des Krieges und der Flucht haben tiefe Verletzungen der Psyche hinterlassen, die bewusst und unbewusst auf das Leben in der neuen Welt einwirkten. Viele schweigen über das Erlebte – aus Sprachlosigkeit, Scham, Angst – die Unmöglichkeit der Bewältigung führt zur Verdrängung. Doch gerade im Alter brechen viele Wunden wieder auf und das Bedürfnis nach Dialog wächst.

Chanan Somberg aus Tel Aviv, einst KZ-Häftling im Lager Treblinka, bringt seine Erlebnisse in Klageliedern zum Ausdruck.

Mein Gebet in der Morgendämmerung
Man sagt, es gäbe Jugend
Qualen
Ein Lied an Ella Miriam

Chanan Somberg: Elegien

40 Jahre lang hatte Chanan Somberg es vermieden, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Gemeinsam mit seinem Sohn reiste der Holocaustüberlebende in den 80er Jahren schließlich nach Polen in das Vernichtungslager Treblinka und fand sich dort unmittelbar mit seiner Inhaftierung und dem Tod seiner Angehörigen konfrontiert. In erschütternden „Anfällen“ kamen seine Erinnerungen zurück, seine Erlebnisse verarbeitete er in „Elegien“, in Klageliedern im Andenken an seine Familie. Den Entstehungprozess beschreibt Somberg wie folgt:

Als ich beschloss, nach Polen zu fahren, lag ich eine ganze Nacht schlaflos, denn meine Zweifel und Hemmungen ließen mich nicht zur Ruhe kommen. […] Als es mir schließlich doch gelang, einzuschlummern, da träumte ich von meiner Familie, wie immer in ähnlichen Situationen nach Gedanken über die Schreckenszeit; und ähnlich tausender früherer Träume über das Leiden und den Tod meiner Familie. […] Ich schrie und weinte und wachte dann auf, während die Tränen weiter flossen. Mit kaltem Schweiß bedeckt sprang ich von meinem Bett und fühlte mich gezwungen, zum Schreibtisch zu laufen. Meine Hand schrieb Buchstaben, und die Buchstaben wurden zu Worten, und die Wörter wurden zu Sätzen, und die Sätze brannten wie Feuer in meinen Knochen. Die Tinte war Blut, mein Herzblut! Und so entstand, mit meinem Herzblut geschrieben, die Elegie zum Andenken an meine Lieben, die in ihrem Leben und Tode nie voneinander getrennt wurden.

Ins Deutsche übersetzte die Elegien Sombergs Freund, der aus Kastellaun stammende Hans Shimon Forst, eingelesen wurden sie von Lis Braun.

Transgenerationelle Traumaweitergabe

Und die Traumata wirken fort - sie werden weitergegeben an die folgenden Generationen. Angehörige tragen den unaussprechlichen Schmerz ihrer Eltern und Großeltern in sich weiter. Dabei hat nicht nur die innerfamiliäre Kommunikation, sondern auch der Umgang mit den traumatischen Erfahrungen in der umgebenden Gesellschaft wichtigen Einfluss auf die Betroffenen. Die öffentliche Auseinandersetzung, z.B. das Einrichten von Erinnerungsräumen, kann einen positiven Beitrag zur Verarbeitung der Traumata bieten. So wird für die einen die Begegnung mit der Familiengeschichte zu einem wertvollen Baustein auf der Suche nach der eigenen Identität, andere können und wollen diese Verbindung nicht wiederherstellen. Zurück bleiben offene Fragen auf allen Seiten: Wie können Menschen ein normales Leben führen, nachdem sie Verfolgung und Vernichtung überlebt haben?

Stimmen

Die folgenden Zitate sind Aussagen von Hunsrücker Juden, ihren Kindern und ihren Enkeln. Es handelt sich sowohl um unbeschwerte Kindheitserinnerungen als auch schmerzhafte Rückblicke und nachdenkliche Betrachtungen und Blicke auf das Leben nach dem Holocaust.